Die Biedermeierzeit (ca. 1815–1848) war eine Epoche der Ruhe, des Rückzugs und der Bürgerlichkeit. Während die großen politischen Ereignisse in Europa die Weltbühne dominierten, konzentrierten sich viele Menschen auf ihr Privatleben – und genau das spiegelt sich in Architektur, Kunst, Möbeln und Lebensstil wider. In mancher Hinsicht ähnelt unsere Lebensweise der der Biedermeierzeit.
Wie schon in der längst vergangenen Epoche schaffen wir uns unser eigenes kleines Paradies, machen es uns mit feinen Dekorationen kuschelig und treffen unsere Freunde zum Plaudern, Kochen oder Grillen zu Hause. Allerdings erfanden wir für das, was Historiker als „Zurückziehen ins Private“ beschreiben, ein neues Wort: Cocooning.
Cocooning schafft Geborgenheit
Die Biedermeierzeit, jene Epoche zwischen dem Wiener Kongress (1815) und der Revolution von 1848, steht in der Kunst- und Kulturgeschichte für Rückzug ins Private, für Bürgerlichkeit und eine Sehnsucht nach Ruhe. Während draußen die großen politischen Umwälzungen Europas weitergingen, fand die Bevölkerung Trost im eigenen Zuhause – gutbürgerlich, funktional, aber stets mit einem Hauch von Ästhetik.
Zwei Jahrhunderte später scheint sich diese Haltung wieder in unsere Lebensweise zu schleichen. Mit Cocooning schafft man sich eine gemütliche und sichere Umgebung, die Geborgenheit und Entspannung bietet.
Weltpolitik muss draußen bleiben
Die Parallelen zwischen damals und heute sind unübersehbar. Auch heute erleben wir eine Zeit multipler Krisen: geopolitische Spannungen, wirtschaftliche Unsicherheiten, der allgegenwärtige Klimawandel. Während die große Weltpolitik immer unüberschaubarer wird, richten sich viele Menschen verstärkt auf das Private aus. Der Boom des Cocoonings lässt sich nicht nur durch die Corona-Pandemie erklären. Schon zuvor setzte sich ein Trend durch, der auf Gemütlichkeit und Beständigkeit setzte – ganz im Sinne der Biedermeierzeit.
In der Architektur und im Design zeigt sich das etwa in einer Rückbesinnung auf klassische Formen und natürliche Materialien. Schlichte, aber elegante Holzmöbel erleben eine Renaissance, gepaart mit gedeckten Farben und liebevoll ausgewählten Accessoires. Auch die damals typische Verbindung von Funktionalität und Ästhetik ist heute wieder gefragter denn je – sei es in minimalistischen Wohntrends oder in der zunehmenden Begeisterung für handwerkliche Qualität.
Was war typisch für die Biedermeierzeit?
Das Biedermeier war geprägt von Privatheit, Naturverbundenheit und einer Vorliebe für das Schlichte und Funktionale.
Wohnen: Das kultivierte Zuhause
Das Zuhause wurde im Biedermeier zur zentralen Lebenswelt. Die Wohnräume waren klein, aber gemütlich und funktional eingerichtet. Typisch waren schlichte, elegante Holzmöbel mit klaren Linien, oft aus Kirsch- oder Nussbaumholz. Besonders beliebt waren Sekretäre, Vitrinen und zierliche Sitzmöbel, die sich gut in kleinere Räume einfügten. Ein warmes, behagliches Ambiente wurde durch helle Tapeten, bestickte Kissen und handgefertigte Teppiche geschaffen.
Farben & Dekoration: Dezent, aber stilvoll
Im Gegensatz zum opulenten Barock oder Rokoko setzte man im Biedermeier auf schlichte Eleganz. Die Farbtöne waren meist hell und pastellig, oft in Creme, Blau, Salbeigrün oder Ocker. Verspielte, aber unaufdringliche florale Muster fanden sich auf Tapeten und Polstern. Wandspiegel und kleine Porträts rundeten die Einrichtung ab – immer mit einem Hang zur feinen Zurückhaltung.
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Kunst & Kultur: Rückzug ins Private
Da die politische Lage repressiv war (Überwachung, Zensur), konzentrierten sich viele Bürger auf Kunst und Kultur im privaten Rahmen. Man traf sich in kleinen Salons zum gemeinsamen Musizieren, Diskutieren oder Vorlesen. Die Hausmusik erlebte eine Blütezeit, mit Klavierstücken von Schubert oder Mendelssohn als Mittelpunkt des geselligen Beisammenseins.
In der Malerei dominierte die Detailgenauigkeit und Naturverbundenheit – bekannt sind die Werke von Carl Spitzweg, der das beschauliche, teils ironisch dargestellte Leben der Bürger porträtierte.
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Mode: Schlicht, aber elegant
Die Kleidung im Biedermeier war ebenfalls zurückhaltender als in den vorherigen Epochen. Frauen trugen weite Röcke mit hoher Taille, die jedoch schmaler wurden als in der Empire-Zeit. Florale Muster und zarte Pastellfarben waren beliebt. Männer setzten auf dunkle, schlichte Anzüge mit hohen Krägen – der Vorläufer des heutigen Business-Looks.
Lebensstil: Sicherheit vor Abenteuer
Der Biedermeier-Mensch liebte es geordnet und überschaubar. Statt politischer Umbrüche wünschte man sich Sicherheit und Stabilität. Viele widmeten sich dem Gärtnern, Handarbeiten oder dem Sammeln von Kunst und Büchern. Gleichzeitig gab es eine große Sehnsucht nach Natur – Sonntagsausflüge ins Grüne oder das Dekorieren der Wohnung mit Blumen waren fester Bestandteil des Alltags.
Der Biedermeier-Garten
Im Biedermeiergarten dienten verwunschene, mit duftendem Geißblatt berankte Lauben oder idyllische Pavillons als Rückzugsorte, in denen man mit der Familie oder Freunden zusammensein. Davor wurde auf einem ordentlich gestutzten Rasenstück – der Rasenmäher war gerade erfunden worden – „Blinde Kuh“ gespielt und manchmal auch getanzt. Vor Blicken geschützt hinter hohen Hecken, Zäunen oder Mauern versteht sich.
Am Wärme abstrahlenden Mauerwerk wuchsen oftmals Birnen oder Aprikosenspalier, und im Gemüsebeet fanden neben Gurken und Radieschen auch „Exoten“ wie Spargel oder Melonen Platz, da Pflanzen aus fremden Ländern leidenschaftlich gesammelt wur den. Für frostempfindliche fremdländische Blumen wie Fuchsien oder Chrysanthemen errichtete man sogar schützende Glashäuser. Doch auch Rosensträucher erfreuten sich großer Beliebtheit. Ihre zarten Blütenfarben wurden durch gläserne Kugeln noch gesteigert.
Zurückziehen, ohne Spießer zu sein
Die Frage bleibt: Ist der neue Biedermeier-Trend eine Flucht vor den Herausforderungen der Gegenwart oder ein kluger Umgang mit unsicheren Zeiten? So wie die Menschen des 19. Jahrhunderts in ihren Wohnzimmern literarische Salons pflegten, sich der Musik widmeten und Kunst schätzten, findet heute eine Rückbesinnung auf Kultur und das bewusste Erleben des Alltags statt. Das zeigt sich in der Liebe zu handgeschriebenen Tagebüchern, in der Renaissance des analogen Lesens oder in der Popularität von Selbstversorgertum und handwerklichem Arbeiten.
Doch ist das Spießertum? Nicht unbedingt. Denn während das Biedermeier für eine gewisse politische Passivität stand, erleben wir heute eine Zeit, in der private Rückzugsorte mit einem neuen gesellschaftlichen Bewusstsein einhergehen. Nachhaltigkeit, bewusster Konsum und eine Rückkehr zu Handwerk und Qualität sind zentrale Themen – nicht aus Angst vor Veränderung, sondern als Antwort auf eine schnelllebige Welt.